<p style="">Es gibt Wege aus der Ablenkungsspirale: Neurowissenschaftler,Psychotherapeuten und Mentaltrainer erklären, wie wir neu lernen können, konzentrierund <strong>zielgerichtet zu denken</strong>. Und das kann eine Menge Spaß machen.</p> <p style="">Gutes beginnt bisweilen mit Streit, Vorwürfen – und einer finalen E-Mail. „Ich will nicht mehr mit dir zusammenarbeiten“, stand in der Nachricht, die Shane Parrish an jenem Sonntag lesen musste, der sein Leben auf den Kopf stellte – und ihn zum Berater und Autor werden ließ.</p> <p style=""><strong>In Verzug</strong>. Damals schob er 60-Stunden-Wochen, hatte seit Jahren keinen Urlaub nehmen können. Er war am Wochenende ins Büro gekommen, um eine Software fertig zu schreiben, die für eine bestimmte Operation des kanadischen Geheimdiensts unerlässlich war. In der kommenden Nacht sollte sie stattfinden. Sein Teamkollege war schon da. Er kam an Parrishs Schreibtisch. Der Code, sagte er, hätte schon vor zwei Tagen fertig sein müssen. „Du hast die Sache in Gefahr gebracht. Leute verlassen sich auf dich.“ Parrish verteidigte sich. Er habe all diese Meetings besuchen müssen. Der Chef habe ihn mit Aufgaben eingedeckt. Außerdem habe er am Freitag die Software ja schreiben wollen, aber der Bus sei im Schnee stecken geblieben. „Ich gebe mein Bestes. Aber es scheint nie genug zu sein.“ Der Kollege blaffte. „Bullshit. Es ist deine Schuld. Hör auf mit den Ausreden.“</p> <h2 id="sind-wir-selbst-schuld">Sind wir selbst schuld?</h2> <p style="">Dieser Dialog, urteilt Parrish heute, habe sich weder nett noch fair angefühlt. Aber er sei, weil man es im Grunde gut mit ihm meinte, freundlich gewesen. Der Kollege habe ihn begreifen lassen, dass es falsch sei, eigenes Versagen mit irgendwelchen äußeren Umständen erklären zu wollen. Derartige Ausreden seien zwar üblich, aber sinnlos. Wer etwas erreichen wolle, müsse auch bereit sein, für Fehler einzustehen. Ohne diese Fähigkeit der Selbstzuschreibung sei ein besseres, ein klares Denken nicht möglich. Shane Parrish ist inzwischen der digitale Prediger des „Clear Thinking“. Per Website, Newsletter und Podcast erklärt er, wie man Klarheit im Kopf erlangt, wie man besser urteilt, besser entscheidet; wie man besser denkt. Und der Bedarf an Bedienungsanleitungen für den Kopf scheint zu steigen. „Wir haben keine normalen Gehirne mehr“, überschrieb die „Neue Zürcher Zeitung“ einen Essay des britischen Journalisten Johann Hari. An zahlreichen Beispielen beschreibt Buchautor Hari das „kollektive Aufmerksamkeitsdefizit“, das die ständigen Ablenkungen des digitalen Zeitalters hervorrufen</p> <p style="">Im Zentrum steht die Dauerpräsenz des Smartphones. Gut 82 Prozent der Deutschen besitzen eines, von den unter 50-jährigen Erwachsenen fast jeder und jede. Einen der vorläufig deutlichsten Beweise für die Ablenkung durch den Alltagsbegleiter erbrachte ein Test mit 42 Probanden an der Universität Paderborn. Er erschien 2023 in einer „Nature“-Publikation. Im Ergebnis zeigten sich bei der Bewältigung verschiedener Aufgaben Unterschiede, je nachdem, ob die Testteilnehmer ein Smartphone neben sich hatten oder das Gerät in den Nebenraum verbannt war. „Die Tatsache, dass das Handy in Sichtweite ist – selbst wenn es ausgeschaltet ist –, beeinflusst die kognitive Leistung“, so der Psychologe und Studienleiter Prof. Sven Lindberg.</p> <p style=""><strong>Stete Unruhe.</strong> Aus neurowissenschaftlicher Sicht konkurrieren in derartigen Situationen zwei Netzwerke im menschlichen Gehirn. Das eine ziehe Aufmerksamkeit auf sich und sei unter anderem für den viel zitierten FOMOEffekt verantwortlich – „Fear of missing out“, die Angst, etwas zu versäumen. Das sagt Prof. Martin Korte, Leiter der Abteilung Zelluläre Neurobiologie an der Technischen Universität Braunschweig. Das andere Netzwerk, so Prof. Korte, koordiniere Aktionen – die Jagd auf einen Bären, das Verfassen eines Gedichts, das Programmschreiben. „So geraten wir von einer hektischen Situation in die nächste“, sagt der Experte. Weil das neuronale Hin-undher-Hetzen Energie koste, ermüdeten wir geistig schneller. „Das Gehirn braucht außerdem Zeit, sich zu fokussieren.“ Als eine Gegenmaßnahme empfiehlt Prof. Korte, immer wieder die drei wichtigsten Dinge aufzulisten, die in nächster Zeit erledigt sein sollten.</p> <h2 id="dem-stress-widerstehen">Dem Stress widerstehen</h2> <p style="">Das Smartphone dauerhaft oder auch nur dann wegzulegen, wenn wir uns konzentrieren wollen, ist freilich kaum eine Erfolg versprechende Bewältigungsstrategie. Das Ding leistet einfach bei zu vielen Aufgaben gute Dienste. Außerdem ist sein permanentes Aufleuchten, Piepsen und Brummen nicht die einzige Herausforderung, die dem arbeitenden Menschen begegnet. Am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz beschäftigt sich die Psychotherapeutin Dr. Isabella Helmreich mit Möglichkeiten, den Stress von sich abprallen zu lassen. Bei der Smartphone-Nutzung rät sie zum intelligenten Dosieren: nicht gleich nach dem Läuten des Weckers danach greifen, sondern frühestens nach dem ersten Kaffee oder Tee; nicht bei jeder auftauchenden Frage losgoogeln, sondern auch mal im Familienkreis oder bei Kollegen nachfragen; und immer wieder Pausen einlegen.</p> <p style="">Das persönliche Ausmaß an Resilienz, also der Fähigkeit, sich an Veränderungen anzupassen, liegt teilweise in den Genen. „Aber etwa 50 Prozent kann sich der Mensch antrainieren“, sagt Dr. Helmreich. Vier Säulen seien entscheidend: eine körperliche – wenig Alkohol, ausreichend Schlaf, regelmäßiger Sport und ausgewogene Ernährung; die zweite Säule ist laut Dr. Helmreich die mentale. Es sei wichtig, sich geistig zu erholen, abzuschalten. „Das leistet schon ein kurzer Spaziergang ins Grüne“, so Dr. Helmreich. Dann gebe es eine soziale Komponente der Resilienz. Gemeint ist, dass man Menschen brauche, auf deren Unterstützung man zurückgreifen könne. Auch Spiritualität unterstütze die Widerstandsfähigkeit. Das könne der Glaube an einen Gott ebenso bewirken wie Naturerfahrung, Meditation oder verschiedene Yogatechniken, so die Expertin.</p> <p style="">Die Selbstoptimierungsstrategien des kanadischen Unternehmers und Buchautors Shane Parrish bauen auf ähnlichen Erkenntnissen auf, richten sich aber primär an Manager und solche, die es werden wollen, an Menschen, die Effizienz mögen. Die Elite von Wall Street und Silicon Valley schwöre auf Parrish, notierte die „New York Times“. Allerdings habe er die Kunst des besseren Denkens keineswegs neu erfunden, merkt der frühere Agent an. Im Gegenteil: Sein Trick ist, sich immer wieder auf die Tricks anderer zu berufen. Es sind die Lebensregeln erfolgreicher Menschen, die Parrish ernst nimmt und zu einem Programm für mentales Training ausbaut. Dabei lässt er sich von Denkern genauso inspirieren wie von Sportlern, Bossen oder Investoren. Wer erfolgreich ist, taugt zum Vorbild. Das klingt einfach und ist es wohl auch. Gegen Parrishs Gedankengymnastik spricht es aber nicht. Das Einfache kann auch einfach richtig und ziemlich hilfreich sein.</p> <h2 id="wir-sind-oft-viel-zu-verzagt">Wir sind oft viel zu verzagt</h2> <p style="">Beinahe banal wirkt denn die Grundeinsicht, die laut Parrish dem klaren Denken vorauszugehen hat. Man müsse die Welt akzeptieren, wie sie sei. Darüber zu lamentieren, dass man sie anders wolle, sei falsch und gefährlich. Niemand sehne sich nach Schwierigkeiten und Unglück. Aber das spiele keine Rolle. Eine Klage ändere nichts an dem Problem, das es mit guten Urteilen und Entscheidungen zu lösen gelte. Nur der nächste Schritt zähle – und die Frage, ob dieser Schritt zur Lösung beitrage oder sie erschwere.</p> <p style=""><strong>Tiefe Furcht.</strong> Neben der Fähigkeit der Selbstzuschreibung gilt es, drei weitere IchStärken für ein besseres Denken zu trainieren – das Selbstvertrauen, die Selbstkontrolle und die Selbsterkenntnis, die schon auf dem Apollontempel in Delphi dem Geschlecht der Menschen aufgetragen ist: Gnothi seauton – erkenne dich selbst. Wer sich verantwortlich fühle, wer sich etwas zutraue, wer seine Ängste und Gefühle kontrollieren könne und um seine Fähigkeiten und Schwächen wisse, erfüllt für Parrish die Voraussetzungen für ein klares, ein „unabhängiges“ Denken.</p> <p style="">Angst, Verzagtheit und Selbstzweifel sind nach den Erkenntnissen der Hirnforschung freilich tief im Menschen verankert. „Wir unterliegen einem Negativ-Bias“, sagt der Psychotherapeut Dr. Christian Firus von der Rehaklinik Glotterbad im südbadischen Glottertal. Unser Gehirn sei so beschaffen, dass es auf erwartete Verluste viel stärker reagiere als auf erhoffte Gewinne. Mit anderen Worten: Der Mensch fürchtet sich zu oft und zu sehr.</p> <p style="">Parrish fordert daher von seinen Lesern und Zuhörern, sich von einigen der Programme zu lösen, die scheinbar zur Grundausstattung des Menschen gehörten, insbesondere der Scheu vor Veränderung, der menschlichen „Trägheit“. Von derartigen evolutionär und sozial vererbten Verhaltensweisen könne sich, so Parrish, zwar niemand wirklich lossagen. Wer sich allerdings von ihnen leiten lasse, sei unfähig, die in seiner Lage jeweils vernünftigen Optionen zu erkennen und abzuwägen. Er reagiere lediglich, anstatt zu urteilen und dem eigenen Urteil entsprechend zu handeln.</p> <p style=""><strong>Aktiv denken.</strong> Ein Urteil, das im Übrigen nicht schon deshalb richtig ist, weil es den eigenen Vorurteilen – und denen des persönlichen Umfelds – entspricht. Der legendäre USInvestor Warren Buffett, eines von Parrishs Idolen, hielt einmal fest: „Ob andere Menschen mit dir übereinstimmen oder dir widersprechen, sagt nichts darüber, ob du richtig- oder falschliegst. Du hast recht, wenn deine Argumente stimmen.“</p> <p style="">Auch wenn es Parrish um einen sehr diesseitigen Nutzen geht – um Erfolg im Job, in der Partnerschaft, um bessere Investitionen –, so folgt sein Ansatz doch einer ehrwürdigen philosophischen Schule, der Aufklärung. Der Mensch, so hatte Immanuel Kant einst gefordert, müsse „Mut“ haben, sich „seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Heutige Psychologen sprechen oft von „Selbstwirksamkeit“ und meinen Ähnliches. Für Parrish heißt, den eigenen Verstand zum Laufen zu bringen, sich der eigenen Instinkte bewusst zu werden und diese nach Möglichkeit „umzuschreiben“. Wer zum Beispiel das selbstständige Denken lang genug eingeübt habe, der wolle davon nicht mehr lassen, weil er daran gewöhnt sei. Die angeborene Trägheit des Menschen werde so zu einer „positiven“ Energie, zu einem Motor des besseren Denkens.</p> <h2 id="atmen-schafft-abstand">Atmen schafft Abstand</h2> <p style="">Wer auf Dauer einen klaren Kopf will, mit Freiraum für gute Urteile und richtige Entscheidungen, kann seine geistige Fitness mit einfachen, aber effektiven Tricks fördern. Denken benötigt Rituale – Regeln, die es ermöglichen, den Modus des bloßen Reagierens zu verlassen und das Stadium des Nachdenkens zu eröffnen. Wer sich in einer Entscheidungssituation sieht, so Parrish, sollte Abstand gewinnen, von den äußeren Umständen und den inneren „Programmen“.</p> <p style=""><strong>Bewusst abwarten.</strong> Schon das Ritual, vor jeder wichtigen Entscheidung zumindest tief durchzuatmen, kann diesen Abstand herstellen. Besser noch – wenn auch bisweilen umständlich: Man entscheidet grundsätzlich erst am nächsten Tag. Nicht nur erholt sich der Körper im Schlaf, es konsolidiert sich auch das Gedächtnis. In einem wundersamen Prozess trennt das Gehirn dabei das Unwichtige vom Wichtigen. Nach einer guten Nacht kann sich der Mensch besser auf das Wesentliche konzentrieren.</p> <p style="">Die vielleicht bedeutendste Regel ist für Parrish die Forderung, sich Vorbilder zu suchen. Wer sich mit Personen umgebe, denen er nacheifere, werde auf lange Sicht bessere Entscheidungen treffen. Wer sich an den Standards von „Role Models“ orientiere, hebe automatisch seine eigenen Maßstäbe für gutes, erfolgreiches Handeln und stärke auf diese Weise seine Fähigkeiten. Wichtig: Jene, die wir als Vorbilder für unser eigenes Denken und unsere Beschlüsse erachten, müssen keine Personen in unserer wirklichen Umgebung sein. Es können Menschen sein, von denen wir aus Büchern oder anderen Medien erfahren haben. Es müssen nicht einmal lebende Personen sein.</p> <h2 id="ein-geistiges-beratergremium">Ein geistiges Beratergremium</h2> <p style="">Parrish schlägt vor, man solle sich mit seinen Vorbildern ein eigenes geistiges Beratungsgremium – ein „Board“ – zusammenstellen. Man sollte sich darin üben, dieses Gremium vor wichtigen Entscheidungen zu befragen. Anregungen, welche Denkerinnen und Denker man heranziehen könnte, gibt Parrishs Schweizer Kollege Benjamin Bargetzi, ehemaliger Manager bei Google und Amazon und Berater des Weltwirtschaftsforums in Davos. In seinem Buch „Nie wieder sinnlos“ (siehe Buchtipp unten) leitet er von 42 Aphorismen berühmter Menschen von Konfuzius bis Mutter Teresa Ratschläge ab, die er als „Impulse für ein besseres Leben“ verstanden wissen will.</p> <p style="">Klares Denken ist für Parrish mit der Einsicht verbunden, dass der Lauf unseres Lebens nicht nur von einigen wenigen, scheinbar großen Entscheidungen abhängt. Welche Ausbildung wählen wir? Welchen Partner, welche Partnerin finden wir? Gründen wir eine Familie? Welchen Job wollen wir? Unsere Schritte an den berühmten Weichen des Lebens mögen wichtig sein. Aber sie bestimmen nicht allein über den Gang unseres Lebens. Es sind insbesondere die scheinbar unbedeutenden, „normalen“ Momente, in denen die meisten Menschen „per Autopilot“ leben. Nicht sie entscheiden, der Moment entscheidet für sie.</p> <h2 id="wo-der-moment-die-weiche-stellt">Wo der Moment die Weiche stellt</h2> <p style="">Was viele nicht sehen, so Parrish, sei, dass jeder „normale“ Moment potenziell über die Qualität ihres künftigen Lebens mitentscheidet. „Klares Denken erlaubt uns, unsere Lebensumstände zu meistern – und befähigt uns, nicht von den Umständen gemeistert zu werden.“ Auch das ist eine Form von Resilienz. Für den jungen Geheimdienstmitarbeiter war es ein Streit im Büro – ein normaler Moment –, den es zu meistern galt. Als der Sturm sich gelegt hatte, begann er nachzudenken. Er fragte sich, was er in Zukunft besser machen wollte. Der Kollege, der nicht mehr mit ihm arbeiten mochte, wurde sein bester Freund.</p>