Unter dem Begriff Ambiguitätstoleranz versteht man die Fähigkeit, verschiedene Meinungen, die sich von der eigenen unterscheiden, auszuhalten und anzunehmen. Diese Fähigkeit ist in einer Gesellschaft mit funktionierender Debatten- und Diskussionskultur substantiell. Aber nur dann, wenn Menschenrechte und Demokratie nicht demoliert und angegriffen werden. Die gilt es zu schützen – immer! Auch wenn aktuelle Wahlergebnisse daran zweifeln lassen, wir leben in einer Demokratie. Und die hat einen ganz zentralen Punkt: Meinungsfreiheit. Ist wichtig und richtig. Geht aber natürlich nur, wenn diese Meinungen auch angenommen werden. Und da kommt der Begriff der Ambiguitätstoleranz ins Spiel, also das Aushalten von Heterogenität, von unterschiedlichen Meinungen. Denn auch wenn wir alle immer glauben, dass unsere Meinung die einzig richtige ist, müssen wir verstehen, dass Meinungsvielfalt für eine moderne Gesellschaft ganz wichtig ist, nur so können möglichst viele Menschen mitgedacht werden. Das klingt jetzt alles hochgestochen und realitätsfremd, als ob die Ambiguitätskompetenz nur für Entscheidungstragende im Bundestag relevant ist. Aber sie ist schon auf sehr viel kleinerer Ebene eine Superkraft, die uns allen gut steht. Ambiguitätstoleranz ist keine Legitimation für Bequemlichkeit und auch nicht dafür, das Arschlochverhalten von einigen Leuten hinzunehmen. Beispiel: Familienfeier zur Weihnachtszeit. Es wird auch innerhalb einer Familie immer verschiedene Meinungen geben, weil trotz Genetik und Blutsverwandtschaft auch Individualität immer noch ein Ding ist. Wenn Tante Gerda also übers Gendern schimpft, dann kann man natürlich mit seriösen Fakten und Studien (ja, gibt echt genug aussagekräftige davon) sachlich fürs Gendern argumentieren, am Ende muss man das aber auch akzeptieren, weil es eine legitime Meinung ist. Wenn man selbst die Grünen wählt, der Papa aber FDP, dann ist das voll okay, weil beide Parteien, egal wie konform man mit den jeweiligen Wahlprogrammen ist, innerhalb eines demokratischen Spektrums agieren und ihre Daseinsberechtigung haben. Aber man muss Meinungen halt auch nur akzeptieren, solange sie auch welche sind. Wenn nämlich Großonkel Herbert irgendeinen NaziMist von wegen Remigration rausrotzt, dann darf und sollte man Contra geben – und nicht zu wenig davon. Ja, auch wenn die Stimmung drunter leidet und Herberts dritte Frau Margit dann etwas vor der Zeit nach Hause will. Herbert vertritt nämlich keine Meinung mehr, sondern strukturelle Diskriminierung und Rassismus. Das ist eine ernst zu nehmende Gefahr für Menschenrechte und Demokratie – und all das noch am Fest der Liebe. Wer die Ambiguitätskompetenz beherrschen will, muss erst anfangen, Meinungen von Diskriminierung und objektiv gesehenem Bullshit unterscheiden zu können. Ist aber auch gar nicht so schwer. Letzteres wird nämlich am allerliebsten mit der Floskel schlechthin: „Was darf man heutzutage überhaupt noch sagen?“ versucht zu kaschieren. Die Ambiguitätskompetenz ist keine Ausrede dafür, sich aus jeder gesellschaftspolitischen Diskussion rauszuhalten und zurückzulehnen, weil es gerade irgendwie bequemer erscheint, als in die Konfrontation zu gehen. Und sie ist auch keine Legitimation dafür, das Arschlochverhalten einiger Mitmenschen so lapidar hinzunehmen, weil man befürchtet, als PartyPooper abgestempelt zu werden. Die Ambiguitätskompetenz ist die Fähigkeit, die Co-Existenz von verschiedenen, legitimen Meinungen zu respektieren. Und dass in Ambiguitätstoleranz das Wörtchen „Toleranz“ steckt, ist kein Zufall. Wer nicht in der Lage ist, Menschenrechte zu tolerieren, hat auch selbst keine Toleranz verdient. Und das ist jetzt einfach unsere Meinung.