<p style=""><strong>Es gibt Leute, die mit Sterne-Chichi nichts anfangen können, für ein Essen bei Tim Raue aber ein Jahr sparen. Er hat die Gourmetküche mit seiner Authentizität auf die Straße gebracht. Wir sprachen mit ihm über das perfekte Weinglas, das Aus-der-Flasche-Trinken und nötige Etepetete.</strong></p> <p style=""></p> <p style=""><strong>Tim, ich habe ein Problem!</strong></p> <p style="">Da bin ich aber mal gespannt.</p> <p style=""><strong>Alles, was mit Gold verziert ist, triggert mich hart. Aber ich kann es auch nicht ertragen, wenn total lässig sechs verschiedene Weingläser auf dem Tisch stehen. Wie macht man es richtig?</strong></p> <p style="">Da muss ich ein bisschen ausholen. Ich war Anfang zwanzig und bin in ein 3-Sterne-Restaurant nach Straßburg gefahren. Es gab damals noch kein Internet,aber man konnte sich die Speisekarte faxen lassen. Sie hatten Mörderweine, ich war total heiß. Und dann stellen die uns Gläser hin, aus denen ich nicht mal freiwillig Wasser getrunken hätte. Null Glaskultur. Wein braucht Raum. Das Glas ist ein elementares Werkzeug.</p> <p style=""><strong>Klingt ziemlich obsessiv.</strong></p> <p style="">Wir haben hier im Restaurant 41 unterschiedliche Glasformen, deshalb arbeite ich seit vielen Jahren mit Zwiesel Glas zusammen. Wenn wir einen Wein offen ausschenken, probieren wir vorher fünf bis sieben Gläser aus, um zu gucken, wie er sich am besten präsentieren lässt.</p> <p style=""><strong>Ist da nicht auch ein wenig Show dabei?</strong></p> <p style="">Auf Leute, die sich nicht mit Wein auskennen, kann es so wirken. In einem Glas hat der Wein mehr Säure, in einem anderen mehr Süße, in einem verschwindet er, weil es zu groß ist, in einem Glas, das zu klein ist, ist die Säure viel zu prägnant und die Frucht geht weg.</p> <p style=""><strong>Jetzt wird’s aber Raketenwissenschaft.</strong></p> <p style="">Für mich ist es das auch. Bis ich ein Glas gefunden habe, in dem ich den Wein serviere, ist es schon hart gruselig! Meine Frau sagt, dass ich spinne, wenn wir essen gehen und ich mir erst mal die Weingläser angucke. Wenn die keine Burgundergläser haben, trinke ich auch keinen.</p> <p style=""><strong>Bist du zu Hause auch so?</strong></p> <p style="">Zum Glück trinke ich zu Hause keinen Alkohol.</p> <p style=""><strong>Euer Restaurant ist in Kreuzberg, du stammst aus einfachen Verhältnissen. Nichts, was für Etepetete stehen könnte. Wofür steht Tim Raue?</strong></p> <p style="">Es geht mir darum, unsere Gäste glücklich zu machen, die teilweise Tausende Kilometer weit anreisen. Alles muss passen. Letztens bin ich in einer größeren Gruppe essen gegangen. Keine engen Freunde, eher Kollegen. Zum Essen hatten wir sommerlichen Weißwein. Als wir gingen, stand noch eine viertel volle Flasche auf dem Tisch. Einer nimmt sie, läuft raus und trinkt im Gehen daraus. Da dachte ich: Okay, der Typ hat bei mir ganz sicher keine Zukunft, keine Chance! Wer ein Genussmittel so konsumiert, mit dem Wissen, dass Winzerinnen und Winzer ein Jahr extrem viel Arbeit und Liebe da reingesteckt haben, der ist bei mir falsch.</p> <p style=""><strong>Hast du schon immer Wert auf Etikette gelegt?</strong></p> <p style="">Nein, gar nicht. Meine Großeltern haben mich da sehr geprägt. Sie waren extrem ordentlich und haben nach den preußischen Tugenden gelebt. Als Teenager fand ich das echt nervig. Später, in meiner Ausbildung, hat mir das sehr geholfen. In der Küche musst du jeden Tag gegen das Chaos kämpfen und das geht nur mit Struktur und Ordnung. Das kriegst du nur hin, wenn du diszipliniert bist. Auf der Straße hast du alles, aber keine Disziplin. Du interessierst dich nicht für Autoritäten, für Grenzen oder Regeln, auf der Straße überschreitest du alles. In der Küche ist es genau das Gegenteil: Hier bin ich ein Pedant, ein Nerd.</p> <p style=""><strong>Ich komme gerade aus Istanbul, wo Sternerestaurants ganz selbstverständlich neben Dönerbuden stehen. In Deutschland habe ich das Gefühl, dass man mit gehobener Gastronomie ein Problem hat.</strong></p> <p style="">Wir Deutschen haben schon immer mit unserer nationalen Identität gehadert. Ich finde, dass wir stolz auf die Entwicklung als Land sein können, auch als Demokratie. Es geht nicht darum, sich mit allen gleich zu machen. Für mich ist die Individualität die Stärke des Menschen. Ich schätze Kunst, ich schätze Musik, ich schätze alles, was etwas schafft und kreiert und somit einzigartig ist.</p>