<h2 id="news-mails-social-media-push-nachrichten-tagtaeglich-werden-wir-von-einer-informationsflut-ueberrollt-was-macht-das-mit-uns-und-gibt-es-ein-entkommen-wir-haben-journalist-und-autor-kester-schlenz-gefragt">News, Mails, Social Media, Push-Nachrichten – tagtäglich werden wir von einer Informationsflut überrollt. Was macht das mit uns? Und gibt es ein Entkommen? Wir haben Journalist und Autor Kester Schlenz gefragt</h2> <p style=""></p> <p style=""><strong>Herr Schlenz, die Digitalisierung soll unser Leben eigentlich leichter machen. Doch wenn ich nach dem Aufstehen schon zehn ungelesene Mails auf meinem Handy sehe, stresst mich das nur. Was läuft schief?</strong></p> <p style="">Die Digitalisierung hat zwei Seiten: Sie macht das Leben leichter, während sie uns gleichzeitig in den Wahnsinn treibt. Natürlich ist es hilfreich, Navis zu benutzen, etwas zu googeln oder sich Handwerker-Tipps auf Youtube zu holen. Aber wir sollen eben auch immer mehr runterladen, bestätigen, updaten, immer erreichbar sein … wir verzweifeln mit all diesen Passwörtern, Hotlines, Bestätigungscodes, Kontaktformularen, Kassen zum Selbstscannen und ServiceCentern ohne Service. Im Grunde sagt die Digitalisierung: Wir helfen Dir, aber bitte mach Dein Zeug alleine!</p> <p style=""><strong>Handy und Internet sind keine neuen Erfindungen. Warum, das ist zumindest mein Eindruck, hat die digitale Erschöpfung erst in den letzten Jahren so zugenommen?</strong></p> <p style="">Weil die Menge an Informationen, die ungewollt oder gewollt jeden Tag auf uns einströmt – sei es über Zeitungen, Fernsehen, E-Mails, WhatsApp oder Push-Nachrichten –, einfach immer mehr geworden ist. Das ist für die wenigsten noch zu bewältigen! Bevor ich mich mit einem Thema wirklich beschäftigen kann, kommen schon die nächsten fünf reingedonnert und „verlangen“, dass ich mich irgendwie dazu verhalte. Das gilt auch für die Unterhaltung: Man hat auf Netflix die eine Folge noch nicht fertig geguckt, da wird schon die nächste angezählt. Ich glaube, dass das bei vielen Menschen auf Dauer zu Unzufriedenheit und einem Gefühl der Überforderung führt.</p> <p style=""></p> <p style="background-color: #eae4f2;"><strong>Kestzer Schlenz, 66 <br></strong>Der studierte Sprachwissenschaftler und Psychologe arbeitet als Journalist und Buchautor. Sein aktuelles Buch: „Ich komm da nicht mehr mit. Wie Informationsflut und digitale Überforderung uns in den Wahnsinn treiben – wenn wir es zulassen!“ Ist im Mosaik Verlag erschienen</p> <p style=""></p> <p style=""><strong>Nun wissen die meisten von uns, dass es Ihnen besser geht, wenn Sie eine Stunde in die Natur gehen oder sich mit Freunden treffen, anstatt auf Instagram abzuhängen. Warum sind wir trotzdem ständig online?</strong></p> <p style="">Das hat etwas mit falscher Prioritätensetzung zu tun. Wir leben in einer getriebenen Gesellschaft. Das Informationsangebot ist omnipräsent. Es entsteht das Gefühl, dass man da mitmachen und up-to-date sein muss. Und man soll zu allem eine Meinung haben. Also ziehen wir uns alles, was verfügbar ist, rein. Das kostet Zeit, dadurch kommen andere Dinge – spazieren gehen, in der Sonne sitzen – viel zu kurz. Und das ist der große Fehler, denn ich glaube, dass wir dieser Informationsflut nur durch ein „Weniger ist mehr“ begegnen können.</p> <p style=""><strong>Nun sind wir als erste Generation so in die Digitalisierung reingerutscht. Denken Sie, dass zukünftige Generationen mit der digitalen Belastung besser klarkommen werden?</strong></p> <p style="">Das bleibt zu hoffen, wobei ich skeptisch bin. Der Neurowissenschaftler und Psychologe Dr. Volker Busch sagt, dass unsere Gehirne schlichtweg nicht in der Lage sind, diese unglaublichen Mengen an Informationen in dieser Schnelligkeit zu verarbeiten.</p> <p style=""><strong>Was bleibt uns dann? Handy weg und Kopf in den Sand?</strong></p> <p style="">Nein, es geht um zwei Dinge. Erstens, wir brauchen mehr mentale Auszeiten. Momente in der Natur, Pausen, in denen wir Musik hören, lesen, mit Freunden zusammen sind oder einfach nichts tun. Der Neurologe Volker Busch sagt, unser Gehirn arbeitet in solchen mentalen Pausen weiter, es ordnet bestimmte Dinge, ähnlich wie im Schlaf. Ich glaube, dass wir das alle dringend brauchen, um nicht durchzudrehen. Und wir brauchen zweitens mehr Resonanzerlebnisse.</p> <p style=""><strong>Was meinen Sie damit?</strong></p> <p style="">Das hat der Soziologe Hartmut Rosa, den ich sehr schätze, in seinem Buch „Unverfügbarkeit“ sehr treffend herausgearbeitet: Häufig befinden wir uns in einem Modus, in dem wir nur noch funktionieren und reagieren, unendliche To-Do-Listen abarbeiten. Kaum ist die Arbeit hinter uns, ruft am Abend noch Mutti an und fragt, warum man nicht zurückgerufen hat. Und die Freundin sagt, wir wollten noch ein Geburtstagsvideo drehen. Aus diesem Modus müssen wir rauskommen und sozusagen wieder das Ungeplante zu lassen. Resonanzerlebnisse sind ungeplant und ergebnisoffen: Man geht spazieren und sieht plötzlich einen Regenbogen.</p> <p style="">Warum freuen wir uns so darüber? Weil es unerwartet ist, nicht planbar. Das sind Momente, die uns gut tun und für unsere mentale Gesundheit essentiell sind.</p> <p style=""><strong>Zeiten der „Unverfügbarkeit“ und Auszeiten in der Natur. Wo kann ich sonst noch Resonanzmomente erleben?</strong></p> <p style="">Im direkten zwischenmenschlichen Kontakt Auch hier weiß ich nie, was mein Gegenüber mir sagen wird, ich kann ihn nicht planen. Das beste Beispiel dafür ist laut Rosa die menschliche Liebe, man kann sie nicht erzwingen, man kann sie auch nicht festhalten, wenn der andere nicht mitmacht. Das ist ein ständiger Austausch, man muss dem Unverfügbaren Raum lassen. Aber wir alle tendieren dazu, das eben nicht mehr zu tun und zu sagen, das will ich jetzt ganz genau vorab alles klären.</p> <p style=""><strong>Wohin führt uns diese Pausenlosigkeit und ständige Verfügbarkeit? Was wird das mit uns als Gesellschaft machen?</strong></p> <p style="">Ich glaube, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen zunehmen wird, Depressionen, Ängste, Burnouts. Bis wir irgendwann merken, dass es so nicht weitergehen kann.</p> <p style=""><strong>Sie selbst waren schon an diesem Punkt und haben eine digitale Auszeit genommen. Sie sind ohne Handy in den Urlaub gefahren. Was war ihr Erkenntnisgewinn?</strong></p> <p style="">Die erste Erkenntnis war: Ich bin süchtig nach meinem Handy. So wie übrigens die meisten von uns. Es gibt Studien, die belegen, dass wir unser Handy mehrere 1000 Male am Tag berühren. Es ist das Tor in die digitale Überforderungswelt. Die zweite Erkenntnis war: Wenn ich nicht auf mein Handy schaue, nehme ich die Welt ganz anders wahr und lasse Raum für Unerwartetes. Anstatt aufs Navi zu gucken, habe ich Einheimische nach dem Weg gefragt. Dadurch haben sich nette Gespräche ergeben oder der ein oder andere Geheimtipp zum Essengehen. Meine dritte Erkenntnis: Von den hunderten Nachrichten, die mich zu Hause erwartet haben, waren vielleicht drei wirklich wichtig. Und auch die hatten warten können.</p> <p style=""><strong>Ein Leben ganz ohne Handy ist heutzutage auch unrealistisch. Gibt es einen gesunden Mittelweg?</strong></p> <p style="">Niemand will zurück in die Steinzeit, das ist klar. Es geht eher darum, sich die begrenzte Aufnahmekapazität, die jeder von uns hat, gut einzuteilen. Für mich bedeutet das konkret, dass ich Mails nicht sofort beantworten und auch nicht 50 Mal am Tag meinen Twitter-Account oder News-Seiten checken muss. Ich kann mich und meine Mitmenschen zu mehr Geduld erziehen. Und ich muss auch nicht auf alles eine Antwort haben. Wenn mich heute jemand nach meiner Meinung zu einem komplexen, politischen Thema fragt, sage ich immer öfter: Ich habe noch keine, weil ich zu wenig darüber weiß.</p> <p style=""><strong>Wie reagieren Ihre Mitmenschen, wenn Sie das sagen?</strong></p> <p style="">Die meisten finden so viel Offenheit gut und sagen: „Mir geht’s genauso.“ Es ist okay, sich von der Informationsflut überfordert zu fühlen und erst einmal abzuwägen.</p> <p style=""><strong>Wie entkommen Sie dem ständigen Handy-Checken?</strong></p> <p style="">Wenn ich mit Freunden essen gehe, bleibt das Handy zu Hause oder wenigstens in der Tasche. Das signalisiert den anderen: Ich bin hier, und es gibt gerade nichts Wichtigeres für mich als euch. Wir alle sollten wieder lernen, bewusst im Hier und Jetzt zu sein.</p> <p style=""><strong>Und wie können wir das lernen?</strong></p> <p style="">Ganz einfach, indem wir es uns bewusst machen. Beispiel: Wenn ich im Wald joggen gehe, muss ich dabei immer Musik hören? Ist das Geräusch der Vögel oder das von meinen Turnschuhen auf dem Waldboden so langweilig? Oder denken Sie an Konzerte. Da zücken alle sofort das Handy und schaffen damit Distanz zwischen sich und dem Ereignis. Das unmittelbare Erleben wird zerstört, indem wir es für die Zukunft kuratieren und andere teilhaben lassen wollen. Dabei sollten wir besser im Jetzt sein und das Ereignis genießen.</p>