<h2 id="forscher-erkennen-wie-gut-es-tut-wohlwollend-zugewandt-und-hilfsbereit-zu-sein-eine-nettigkeitsrevolution-wuerde-uns-gluecklicher-und-gesuender-machen-und-die-welt-ein-bisschen-besser-wie-my-life-autor-bernhard-borgeest-feststellte">Forscher erkennen, wie gut es tut, wohlwollend, zugewandt und hilfsbereit zu sein. Eine Nettigkeitsrevolution würde uns glücklicher und gesünder machen. Und die Welt ein bisschen besser – wie My Life-Autor Bernhard Borgeest feststellte</h2> <p style="">Es regnete, ein böiger Wind blies mir ins Gesicht, und ich war in großer Eile. Aber ich wurde dieses Carsharing-Auto nicht los. Die Miete ließ sich nicht beenden, obwohl der Wagen auf einem ordentlichen Parkplatz stand. „Nehmen Sie mit uns Kontakt auf“, verlangte die App. Ich musste lange auf mein Smartphone tippen, bis ich eine Telefonnummer fand. Dann hieß es: „Voraussichtliche Wartezeit mehr als 30 Minuten.“ Die Gebühren liefen weiter. Ich war, wie man so sagt, total genervt.</p> <p style=""><strong>Entwaffnend</strong>. Als Ausweg bot sich an: „For English press two.“ Es meldete sich ein Mann mit indischem Tonfall. Auf ihn lud ich meine Gereiztheit und meine Verzweiflung ab, wissend, dass ich den Falschen traf. Da sagte er einen Satz, der alle Wut in sich zusammenfallen ließ: „Ich verstehe Sie.“ Der Mann hörte mir ruhig zu und versprach mit sanfter Stimme: „Wir werden das Problem lösen.“ Was ich zu spüren bekam, war etwas Unerwartetes. Etwas Entwaffnendes. Es war die Macht der Freundlichkeit.</p> <p style="color: #0b6e99;"><strong>Die Freundlichkeit hat viele Feinde</strong></p> <p style="">Zugewandt, wohlwollend, hilfsbereit sein. Könnte das nicht als Prinzip unseres Zusammenlebens gelten? Wäre unser Dasein nicht leichter und schöner, wenn wir netter zueinander wären und die Freundlichkeit regierte? Doch wie mag sie gelingen? Lässt sie sich erlernen? Warum begegnet uns so viel Garstigkeit? Und wie mit der eigenen schlechten Laune umgehen? Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen rede ich mit einer Reihe äußerst achtsamer Menschen aus unterschiedlichsten Welten. Ich erfahre, wie verblüffend positiv Freundlichkeit auf Körper und Psyche wirkt, ja selbst beim Anlegen von Handschellen die Gemüter zu beruhigen vermag. Aber auch, welche Fallstricke es gibt und welche Hindernisse sich ihr in den Weg stellen. Die Freundlichkeit, so lerne ich, hat viele Feinde.</p> <p style="">Deutsche Forscher fremdeln etwas mit dem Begriff „Freundlichkeit“. Während viele amerikanische und britische Wissenschaftler wie selbstverständlich von „kindness“ sprechen, ihre Institute das Wort auch im Namen tragen, publizieren Psychologen bei uns lieber über „prosoziales Verhalten“. Diese Formulierung erscheint ihnen präziser.</p> <p style="">Auch Dr. Isabel Thielmann, Psychologin und wichtige Expertin auf dem Gebiet, erkundet das Prosoziale. Kurioserweise arbeitet sie am Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, wo sich die meisten ihrer Kollegen eher Antisozialem widmen. Dort hat man offenbar erkannt: Der Blick auf die hellen Seiten unseres Wesens könnte helfen, auch seine dunklen Aspekte besser zu verstehen. Die 34-Jährige und ihr Team nutzen Methoden aus der Spieltheorie der Ökonomie. Sie konfrontieren Probanden im Labor oder in Onlinepanels z. B. mit dem „Diktatorspiel“ oder dem „Gefangenen-Dilemma“. Und immer geht es darum, zwischen kooperativem oder egoistischem Handeln abzuwägen, Geld zu teilen oder für sich zu behalten.</p> <p style=""><strong>Ansteckend</strong>. Dabei zeichnet sich ab, was uns auch im Alltag begegnen kann: Freundlichkeit bzw. prosoziales Verhalten steckt an. Sind die Mitspieler großzügig, bin ich es auch. Die Bereitschaft hängt weder von Alter, Einkommen noch Religionszugehörigkeit oder IQ ab. Nett hat nichts mit doof zu tun. Beim Geschlecht aber wird ein kleiner Unterschied deutlich. „Männer sind gegenüber Frauen freigiebiger als gegenüber Männern“, so Thielmann. „Offenbar herrscht bei ihnen untereinander eine stärkere Rivalität.“ Frauen verhielten sich gleichbleibend prosozial.</p> <p style="color: #0b6e99;"><strong>Das Wohlbefinden steigt</strong></p> <p style="">Gene, Erziehung und soziale Normen beeinflussen unsere Großherzigkeit. Und auch die Umstände. Das zeigt ein berühmtes Experiment des Sozialpsychologen John Darley an der Princeton University. Auf dem Weg, den Theologiestudenten zu ihrem Seminar nahmen, mimte ein Schauspieler einen am Boden liegenden Verletzten. Einen Teil der Studenten hatte Darley unter Zeitdruck gesetzt. Sie sollten einen Vortrag halten. Thema: der barmherzige Samariter. Von ihnen halfen nur zehn Prozent. Ohne Eile sprangen 63 Prozent bei.</p> <p style="">Bei einem anderen Typ von Versuchen lassen Forscher ihre Teilnehmer Übungen in Sachen Freundlichkeit absolvieren. Die eigene Großmutter anrufen; einem Obdachlosen einen Kaffee spendieren; einer Fremden ein Kompliment zu einem Kleidungsstück machen. Befragen die Wissenschaftler danach Spender wie Empfänger dieser Wohltaten, registrieren sie bei beiden einen klaren Anstieg des Wohlbefindens. Die US-Stiftung „Random Acts of Kindness“ (dt.: Kleine Gesten der Freundlichkeit) stellte auf ihrer Webseite Studien über die enormen Gesundheitseffekte des Freundlichseins zusammen: Es lässt den Blutdruck und den Pegel des Stresshormons Cortisol sinken, löst Ängste, erhöht das Selbstwertgefühl, steigert die Lebenserwartung und flutet uns mit Glückshormonen. Unser Gehirn belohnt uns für Freundlichkeit.</p> <p style=""><strong>Überschätzt</strong>. Gleich mehrere Fehlurteile erschweren es uns jedoch, in den Genuss dieses Glücks zu kommen. Zum einen hält sich die große Mehrheit bereits für überdurchschnittlich nett und rücksichtsvoll. Muffig sind stets die anderen. „Selbstüberhöhung im moralischen Spektrum“ nennt Dr. Thielmann das. „Wir wollen von uns selbst denken, dass wir gute Menschen sind.“ Bei ihren Befragungen stellte sie fest: „Die allermeisten sehen keinen Anlass, sich prosozialer zu verhalten.“ Ändern wollen sie sich allenfalls, wenn sich Freunde oder Bekannte bei ihnen über ihr unwirsches Auftreten beklagen.</p> <p style="">Ein zweites Hindernis für mehr Freundlichkeit ist falsche Scheu. Uns plagt die oft unberechtigte Sorge, abgewiesen oder missverstanden zu werden. Dabei zeigte kürzlich eine Studie der Uni Pittsburgh, dass wir deutlich unterschätzen, wie sehr sich andere über einen spontanen Gruß per SMS oder E-Mail freuen. Ein drittes Hemmnis ist ein Erbe der Kirchenväter – das Konzept der Selbstlosigkeit. Die Bibel fordert Nächstenliebe, formuliert es als strenges Gebot. Doch Liebe ist viel verlangt. Und dass alle Barmherzigkeit zudem uneigennützig zu erfolgen habe, aufopfernd oder gar märtyrerhaft, errichtet eine Hürde der Heiligkeit, die wir sündhaften Menschen kaum nehmen können. Sie macht es Spöttern leicht, einen Wohltäter als heuchlerischen Gutmenschen oder heimlichen Egoisten abzuwerten.</p> <p style="">Warum darf es mir nicht selbst guttun, wenn ich Gutes tue? Warum sollten wir die Freuden der Freundlichkeit nicht teilen? „Der Dualismus zwischen Altruismus und Egoismus ist oft kontraproduktiv“, sagt Christian Uhle. Er ist Philosoph, hat einen Lehrauftrag in Karlsruhe und kürzlich ein Buch über den Sinn des Lebens veröffentlicht – „Wozu das alles?“ Wir treffen uns im „Schwarzen Café“ in der Berliner Kantstraße, das seit 1978 bis spätnachts Frühstück serviert. Die Freundlichkeit des Lokals besteht auch darin, einen freien Denker wie Uhle den ganzen Nachmittag bei einer Tasse Tee lesen und arbeiten zu lassen.</p> <p style="color: #0b6e99;"><strong>Schon in der Antike eine Tugend</strong></p> <p style="">Freundlichkeit hat für Uhle etwas Tiefes, Stabiles, Ganzheitliches. „Sie ist kein Verhalten“, sagt er, „sondern eine Haltung.“ Sie komme von Herzen, umfasse Überzeugungen und Emotionsdispositionen. In der Antike sei sie wichtiger Teil eines ganzen Katalogs von Tugenden gewesen, zu dem auch Mut und Gerechtigkeit zählten. In der Fürsorge für andere entstehe ein spürbarer, ein wahrhaftiger Sinn: „Wenn ich die Welt bejahe und mich umgeben sehe von wertvollen Wesen, lebe ich selbst in einer reicheren, lebenswerteren Welt.“ Für die berüchtigte Berliner Schnauze hat er wenig Verständnis. Der Begriff sei ein fragwürdiger Versuch, „Unhöflichkeit als coole Marke zu konzeptualisieren“, so Mann aus NRW, getreu dem Motto: „Freundlichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ Dahinter steht ein negatives Bild von der Welt und vom Menschen. Womöglich das größte aller Hindernisse, um anderen wohlmeinend zu begegnen. „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ lautet ein Satz, den der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts populär machte. Er wurde zum Leitmotiv eines ruchlosen Kapitalismus, in dem jeder gegen jeden kämpft, Geiz geil und Gier gut ist. Ein falsches Verständnis der Darwin’schen Evolutionslehre und der Formulierung „Survival of the Fittest“ lieferte dazu eine biologistische Rechtfertigung für alle ungezügelte Selbstsucht.</p> <p style=""><strong>Sozial</strong>. Mögen auch Tierdokus, in denen Löwen Antilopen reißen, unsere Vorstellung von Wildnis prägen: Tatsächlich sind die Ökosysteme der Erde weniger der Schauplatz eines großen Gegen- als vielmehr eines großen Miteinanders, einer Megasymbiose von Pflanzen, Flechten, Pilzen, Tieren und Bakterien. Im Kosmos der Kreaturen ermöglicht sich das Leben gegenseitig. Das sozialste aller Wesen aber ist der Mensch. Er vermag einzigartige Verbünde mit engem Zusammenhalt und komplexer Arbeitsteilung zu schaffen. Auch Darwin sah in unserer Fähigkeit zu Mitgefühl und Kooperation den Schlüssel zu unserem evolutionären Erfolg. „Survival of the Friendliest“ lautet der Titel eines Buches der Anthropologen Brian Hare und Vanessa Woods, der daran erinnert. Ohne die tief in uns verwurzelte Veranlagung, zueinander freundlich zu sein, hätten wir Menschen als Spezies nicht überlebt. Nicht umsonst benutzen wir die Worte „menschlich“ und „freundlich“ wie Synonyme.</p> <p style="">Dass das Prinzip der Kooperation inzwischen in vielen deutschen Firmen und ihren Chefetagen ankommt, bestätigen Mareen Ilgner und Gesche Gaudszuhn. Die Geisteswissenschaftlerinnen sind zwei von acht Mitarbeiterinnen der „Agentur für Freundlichkeit“. Die Beraterfirma hat ihr Büro in einem kleinen Haus mit großen Fenstern und weißen Wänden am Stadtrand von Köln. Gegründet wurde sie, als Deutschland noch als Servicewüste galt. Schulten sie zu Anfang vor allem Verkaufspersonal, zählen heute Kliniken, kirchliche Einrichtungen oder Pharmakonzerne zu ihren Kunden.</p> <p style=""><strong>Dienend</strong>. Den Begriff „Schulung“ vermeiden die Trainerinnen inzwischen allerdings. „Wir können und wollen nicht kommen, um mal eben die Pflegekräfte freundlicher zu machen“, sagt Ilgner. „Es darf nicht darum gehen, Makeup aufzutragen.“ Lassen die Leitung und das Budget es zu, tragen die Coaches ihren „Freundlichkeitsgedanken“ in das ganze Haus und versuchen, auf allen Ebenen tiefer liegende Bedürfnisse zu ergründen. „Wir machen Kulturarbeit“, sagt Gaudszuhn. Freundlich sein fällt leichter, wenn der Job Spaß macht. Längst gehöre Selbstreflexion zum Repertoire einer Führungskraft, so Ilgner und Gaudszuhn. „Patriarchale Wasserfallkonstrukte“ würden verschwinden, „Servant Leadership“, eine dienende Führung, sei angesagt. Themen wie Fachkräftemangel, Burnout und mentale Gesundheit würden die Manager beschäftigen. Auch deshalb achteten sie heute auf Wertschätzung und Respekt. Und sie würden mit dem Vorurteil aufräumen, Freundlichkeit sei ein Zeichen von Schwäche oder gar Naivität. Sie sei vielmehr eine Stärke und der Weg zum Erfolg, bringe persönliche Karrieren ebenso voran wie die Firmen als Ganzes. Auch schwierige Entscheidungen ließen sich verbindlich treffen. Freundlich, aber bestimmt.</p> <p style="color: #0b6e99;"><strong>Offener kommunizieren</strong></p> <p style="">Eine gewaltige Aufgabe gäbe es für die „Agentur für Freundlichkeit“ in Eichstätt an der Altmühl zu lösen. Auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne des königlich-bayerischen Heeres erlernen knapp 700 junge Frauen und Männer den Beruf des Polizisten. Sie trainieren, auch unter verschärften Bedingungen freundlich und gelassen zu bleiben. Denn in ihrem künftigen Job schlagen ihnen oft Ablehnung, Provokation und auch Gewalt entgegen.</p> <p style="">Die Persönlichkeit der Beamten auszubilden, ist eines der wichtigsten Ziele für die Lehrkräfte der Bereitschaftspolizei. Mitverantwortlich dafür ist Andreas Dietl, Leiter des Fachs „KK“ – Kommunikation und Konfliktbewältigung. Er hat Polizeiliches Management studiert, trägt auf der Schulterklappe drei silberne Sterne, die ihn als Hauptkommissar ausweisen, und um Lippe und Kinn einen Dreitagebart.</p> <p style=""><strong>Nahbar</strong>. „Man will diese bürgerfreundliche Polizei“, sagt er. „Und da passiert viel.“ Nach dem Krieg habe man Ordnungshüter noch paramilitärisch gedrillt. Wackersdorf sei jedoch ein Weckruf gewesen. Gerüstet mit Schild, Helm und Schlagstock lieferten sich die Einsatzkräfte in den 80er-Jahren Schlachten mit den Gegnern der geplanten Wiederaufbereitungsanlage. Heute würden die Bereitschaftspolizisten ohne Schild und somit ohne optische Barriere auftreten: „Sie haben die Arme frei und können offener kommunizieren.“ Arm- und Beinschutz tragen sie unter der Uniform, um weniger martialisch zu wirken. Seine Schüler macht Dietl mit vielen Methoden vertraut, mit denen sie Stress abbauen und ihre Resilienz stärken können: Atemtechniken, mentale Übungen, Verfahren der Selbstwahrnehmung sowie der Rat, „kurz aus Situationen rauszugehen“, oder große Muskelgruppen anzuspannen und wieder zu lösen. All das hilft, besonnen zu bleiben.</p> <p style="">Das Highlight seines „KK“-Unterrichts seien die Rollenspiele, sagt der Ausbilder, z. B. zu den Modulen „Ladendieb“ oder „häusliche Gewalt“. Schüler in Zivil geben sich als „Störer“ aus. Kollegen mit Uniform und Einsatzgurt sind die „Einschreiter“. Zunächst gilt es, Elementares zu beachten: höflich grüßen, sich mit Namen vorstellen, in ganzen Sätzen sprechen, „bitte“ und „danke“ sagen, zuhören und Fragen stellen. Die Ruhe gilt es möglichst auch dann zu bewahren, wenn sie den Widerstand eines Störers „körperlich abarbeiten“ müssen. Jede Maßnahme ist zu benennen, der Dialog stets fortzusetzen, auch zur eigenen Sicherheit.</p> <p style=""><strong>Deeskalierend</strong>. Bei einem Rollenspiel gebe ich den Beifahrer eines Wagens, den ein junger Polizist und eine junge Polizistin zu einer sog. verdachtsunabhängigen Verkehrskontrolle herauswinken. Dabei setzen sie eines der wichtigsten und mächtigsten Mittel menschlicher Kommunikation ein, das Signal der Freundlichkeit: Sie lächeln die Fahrerin und mich strahlend an. Gar nicht leicht, sich da so renitent zu verhalten, wie es die Regieanweisung verlangt. Ich erfahre aber auch: Sollte ein Fahrer solchem Charme nicht erliegen und einfach losbrausen wollen, würden die eben noch so liebenswerten Beamten die Scheibe seines Wagens einschlagen. Auch das gilt ihnen als vergleichsweise „mildes Mittel“.</p> <p style="color: #0b6e99;"><strong>Eine mehr als 2500 Jahre alte Übung</strong></p> <p style="">Einige der mentalen Praktiken, wie sie die angehenden Polizisten aus Eichstätt einüben, erwiesen sich in Studien von Psychologen und Neurowissenschaftlern tatsächlich als ein Weg zu mehr Freundlichkeit. In MRT-Scans zeigte sich, dass bestimmte Techniken der Versen- kung Hirnregionen verdickten, die bei Mitgefühl aktiv sind. Offenbar können wir lernen, sozialer zu werden und uns inniger mit anderen Menschen zu verbinden. Wir können positive Emotionen kultivieren und eine fürsorgliche Haltung einstudieren wie z. B. ein Instrument.</p> <p style="">Eine Form dieser Übungen ist über 2500 Jahre alt und geht auf den Inder Siddhartha Gautama zurück, der den Ehrennamen Buddha trägt. Asiatische Mönche haben sie fortentwickelt. Sie nennt sich Metta-Meditation, die Meditation der liebenden Güte. In Berlin lädt Angelika Baur zu Metta-Abenden. In einer therapeutischen Praxis in Wilmersdorf haben sich sieben Frauen und ein Mann um eine Vase mit gelben Tulpen und eine brennende Kerze versammelt. Sie nehmen ihren „ganzen Körper in die Aufmerksamkeit“, öffnen ihren „Herz-Geist-Raum“.</p> <p style="">Sie meditieren über den Satz „Möge ich glücklich sein“ und konzentrieren sich auf universelle Wünsche nach Sicherheit, Geborgenheit und Unbeschwertheit. Erst für sich, dann für Freunde, Verwandte und schließlich für Menschen, die ihnen womöglich nicht wohlgesonnen sind. Sie wollen sich so in einen „heilsamen Geisteszustand“ versetzen und darin Freude, Dankbarkeit, Offenheit und Harmonie spüren.</p> <p style="">Einige praktizieren Metta schon seit Jahren, sagen Sätze wie: „Mein Leben ist leichter und lichter geworden.“ – „Ich bin wohlwollender mit mir selbst.“ – „Ich trage schwierige Situationen besser.“ – „Meine Freundschaften haben sich vertieft.“ – „Ich urteile nicht mehr so streng.“ Mit Metta, so sagt Angelika Baur, lernen wir, freundlich zu uns und zu anderen zu sein und auch unsere Wut und Launen zu bändigen. Wenn wir uns provoziert fühlen, können wir untersuchen, welche Gefühle bei uns und beim anderen dahinterstecken. Was der andere triggert. Wir können uns also für verschiedene Sichtweisen entscheiden.</p> <p style=""><strong>Verstärkend</strong>. Mir fällt dazu eine Weisheit des verstorbenen Wiener Psychiaters Viktor Frankl ein. „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum“, schrieb er. „In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ Wir haben die Freiheit, freundlich zu sein. Und da Freundlichkeit ansteckend ist, uns selbst guttut und fröhlicher macht, kommen womöglich Wechselwirkungen in Gang, die sich gegenseitig verstärken. Dominoeffekte der guten Laune. Wir bräuchten nur die vielen täglichen Chancen wahrzunehmen, aufmerksam, rücksichtsvoll oder zuvorkommend zu sein. Die Welt könnte ein noch vergnüglicherer Ort werden, bliebe Freundlichkeit nicht nur ein individuelles Projekt. Wir könnten uns in Städten bewegen, die nicht für Autos, sondern für Menschen geplant sind, und in Wohnhäusern leben, die Raum für Gemeinschaft lassen. Schulen könnten neben der individuellen Leistung vermehrt den Gemeinsinn stärken. Und Behörden könnten sich eher als Servicestellen denn Ämter begreifen. Unsere Freundlichkeit könnte unsere natürliche Umwelt mit einschließen, den geschundenen Planeten und seine vom Aussterben bedrohten Bewohner.</p> <p style="">Vor den Tücken der Freundlichkeit müssen wir uns nicht fürchten. Wir besitzen ein feines Sensorium, das uns dabei hilft, übertriebene, manipulative oder gar falsche Herzlichkeit zu erkennen. Auch die Berliner Schnauze können wir dechiffrieren. Hinter so mancher Ruppigkeit verbirgt sich ein Kompliment – oder zumindest ein Angebot zur Kommunikation.</p> <p style="">Zum Zwang aber sollte Freundlichkeit nicht werden. Wer immer nur lächeln muss, auch wenn ihm nicht danach ist, gerät in seelischen Stress. „Toxic positivity“ ist der moderne Begriff dafür. Hüten sollten wir uns auch vor dem Hochmut der Gütigen. Gute Taten zu vollbringen, macht uns nicht zu guten Menschen.</p> <p style="color: #0b6e99;"><strong>Kehrseite Feindlichkeit</strong></p> <p style="">Der Mensch ist zu einzigartiger Freundlichkeit fähig, und Kooperationsbereitschaft mag seine erfolgreiche Grundhaltung sein. Doch es gibt auch ihre Kehrseite – die Feindlichkeit. „Wir sind die toleranteste und zugleich gnadenloseste Spezies auf Erden“, sagt der Anthropologe Brian Hare. „Fähig zu unfassbarer Brutalität.“ Hinter Grausamkeiten, Kriegen und Genoziden stehe meist ein perfider mentaler Mechanismus: Wir dehumanisieren unsere Opfer. Die Nazis erklärten Nichtarier zu Untermenschen. Die Hutu in Ruanda diffamierten die Angehörigen der Tutsi als Schlangen und Kakerlaken. Und aktuell schmäht Russlands Propaganda die Ukrainer als Nazis.</p> <p style="">„Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“ Thomas Hobbes hatte diese Formulierung von dem römischen Komödiendichter Titus Plautus übernommen. Interessanterweise geht der Satz im Original aber weiter. Dort heißt es: „Denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch. Das gilt zum Mindesten so lange, als man sich nicht kennt.“ Begegnungen ermöglichen es uns, die Gräben der Entmenschlichung zu überwinden.</p> <p style=""><strong>Selektiv</strong>. Wie schnell der Mensch jedoch die Schemata „wir“ und „die anderen“ aufbaut, zeigen auch die Experimente von Dr. Isabel Thielmann in Freiburg. Minimale Merkmale wie farbige Armbänder oder Kappen reichen, um „In-Groups“ und „Out-Groups“ entstehen zu lassen. Das geschieht selbst dann, wenn Probanden danach eingeteilt werden, ob sie Gemälde von Paul Klee oder Wassily Kandinsky lieber mögen. Auch anhand dieses absurden Kriteriums entscheiden sie, ob sie einander helfen oder nicht. Ein allgemeines Phänomen macht sich bemerkbar, sagt die Forscherin: „Die meisten Menschen sind in ihrer Prosozialität selektiv und diskriminierend.“</p> <p style="">Auf den unbekannten Mann aus dem Callcenter der Carsharing-Agentur traf das nicht zu. Freundlich erließ er mir die verstrichenen Minuten und gab einem Serviceteam Bescheid, sich den Wagen anzusehen. Seine souveräne Art hatte mich ein wenig beschämt und nachdenklich gemacht. Ich bedankte mich bei ihm dafür, dass er so ruhig geblieben war. Er sagte: „Gern geschehen. Das ist mein Job.“</p>